Leseprobe aus den Vielwelten

Leseprobe Band I

Auszug aus dem ersten Kapitel von 'Tala und die vergessenen Tore':


Die Luft im Dachgeschoss war wie immer feucht. Kühl drang die Nacht durch die Ritzen zwischen den Dachziegeln, und der Mondschein bahnte sich seinen Weg durch das kleine Fenster, sodass der Raum schwach erleuchtet war.
Unter der Dachschräge lag sorgfältig ein Laken über frischem Stroh ausgebreitet, neben dem Lager stand eine große Truhe. Tala lächelte. Sie schlief hier viel besser als auf den harten Matten im Schlafsaal des Waisenhauses. Ruhig ging sie zu der Truhe hinüber und zündete die Kerze an, die darauf stand. Sie wollte noch ein wenig die Zeichnungen anschauen, die sie letztes Wochenende hier gemalt hatte und die seitdem auf einer alten Schulbank unter dem Fenster lagen. Diese Schulbank hatte Martha gehört, die als Kind im Haus ihrer Eltern hier auf dem Dachboden gewohnt und gelernt hatte. Nun diente die Bank Tala als Maltisch und Versteck für ihre vielen Zeichnungen.
Sie war noch mit der Kerze beschäftigt, die nicht gleich an­gehen mochte, als sie mit einem Mal spürte, dass sie nicht alleine war. Langsam drehte Tala sich zur Schulbank um. Das Dach­fenster stand offen und zwei leuchtend rote Augen starrten sie aus der Dunkelheit heraus an.

Dort auf der Schulbank saß der Vogel von der alten Mühle! Es war tatsächlich ein Rabe, nur war er bestimmt dreimal so groß wie die, die sich im Winter auf dem Dach des Waisenhauses tum­melten. Seine roten Augen durchdrangen den Raum in einem seltsamen Glühen. Tala wich zurück, stolperte und ließ die Kerze fallen. Das Licht erlosch und sie war unter den finsteren Dachbalken im Halbschatten des Mondes gefangen. Sie spürte, wie ein fremdes Bewusstsein nach ihr griff und sich unsichtbare Klauen um ihren Brustkorb legten wie eiserne Ketten. Ihr Mund öffnete sich, aber kein Laut kam heraus. Wieder begann sich die Welt um sie herum zu drehen und sie fiel auf den rauen Holz­boden.
Die Klauen pressten ihren Körper weiter zusammen und etwas bohrte sich in ihren Kopf. Heftig pochte das Blut in ihren Schläfen und der Schwindel wurde so stark, dass sie glaubte, ins Bodenlose zu stürzen. Sie wollte um Hilfe rufen, aber ihre Stimme schien ihr nicht mehr zu gehorchen. So rief sie ver­zweifelt in Gedanken: ‚Hilfe! Hilfe!‘

Plötzlich hörte sie ein Poltern auf der Leiter, und im nächsten Moment wurde die Dachluke aufgerissen und das Gesicht von Janus erschien. Blankes Entsetzen schlich sich in seine Augen, als er den Raben erblickte. Mit einem kräftigen Ruck schwang er sich in das Zimmer und spuckte dem Vogel ein Wort entgegen, welches Tala nicht verstand. Schlagartig lösten sich die unsicht­baren Klauen und der Rabe wandte sich zum offenen Fenster. Erst jetzt bemerkte sie, dass er eine ihrer Zeichnungen im Schnabel trug. Erstaunt riss sie den Mund auf, aber da war das große Tier schon mit kräftigem Flügelschlag in die Nacht ver­schwund­en. Janus hastete zum Fenster und zog es schnell zu.

„Meine Zeichnung“, hauchte Tala fast lautlos. Ein seltsames Gefühl hatte sie erfasst.
„Was?“ Janus drehte sich zu ihr um.
„Der Rabe hat eine meiner Zeichnungen mitgenommen.“
Tala starrte Janus mit aufgerissenen Augen an und deutete auf die Schulbank. Martha Begetstones verschollener Sohn sah verwirrt auf die bemalten Seiten hinunter. Plötzlich atmete er keuchend aus, beugte sich vor und sah sich hastig ein Blatt nach dem anderen an. Entsetzt blickte er auf, zog eine Zeichnung heraus und hielt sie ihr hin.
„Wie um Himmels willen kommst du dazu, so etwas zu malen?“ Seine Stimme klang gepresst, und Tala trat mit weichen Knien näher. Auf dem Papyrus sah man ein großes, offenes Auge, welches sie wissend anstarrte. Plötzlich wurde ihr eiskalt und sie begann unkontrolliert zu zittern.

„Ich weiß es nicht“, flüsterte sie hilflos. Und das war die Wahrheit. Eine Wahrheit, die sie wie die Albträume, die sie jede Nacht heimsuchten, bereits ihr ganzes Leben begleitete.
Einen Moment sah Janus sie einfach nur an, unbeweglich, gefangen in der Spannung unausgesprochener Fragen. Doch mit dem nächsten Atemzug kehrte alle Lebendigkeit in den jungen Mann zurück. Mit hektischen Bewegungen sammelte er die Papyrus-Blätter ein, warf sie in den Regeneimer, der neben der Truhe stand, und zündete sie an. Beißend kroch der Rauch aus dem Eimer empor und kratzte Tala im Hals, während sie auf die züngelnden blauroten Flammen starrte.
Janus wartete, bis das Papier völlig verbrannt war, dann schaute er auf. „Wir müssen weg von hier. Sofort.“

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ISBN Hardcover: 9783756840175
ISBN Taschenbuch: 9783756840199

Band II Teil 1 (New Edition): Tala und der verschollene Weise 1
(Achtung Spoiler: wenn du Band 1 noch nicht gelesen hast, solltest du besser nicht weiterlesen)

„Gib‘ es her!“
Tala schreckte hoch. Sie lag in ihrem Unterschlupf zwischen den Baumpilzen, und vor ihr stand der junge Mann aus ihrem Traum. Sein Bogen war gespannt und ein Pfeil mit leuchtend bunten Schaftfedern zielte genau auf ihr Herz.
Seine Augen blitzten in einem hellen Grün, in das sich goldene Sprenkel mischten wie leuchtende Blätter in das vergehende Grün eines Herbstwaldes.
„Du hast etwas, was mir gehört! Gib‘ es sofort wieder, sonst durchbohrt dieser Pfeil deine Brust, bevor du dich umsehen kannst.“
Tala lag wie erstarrt und ihr Verstand versuchte fieberhaft, aus dem schlau zu werden, was soeben geschah. Sie hatte doch nur geträumt! Der Kokon, der Schlafende und das seltsame Holzding mit dem Stein − das war doch nicht echt gewesen!

Plötzlich spürte sie, dass sie etwas in der rechten Hand hielt. Sie öffnete ihre Faust, und darin lag das runde Holzstück mit dem schönen Stein, der milchig schimmerte wie ein weißer Opal. Ihr Mund klappte auf. „Aber wie …?“
„Gib‘ es mir! Sofort!“ Der befehlende Ton in der Stimme des Waldbewohners ließ keine weiteren Überlegungen zu. Unwillkürlich streckte Tala die Hand aus und sah reglos zu, wie der junge Mann mit geschmeidigen, schnellen Bewegungen den Bogen sinken ließ, den Stein nahm und ihn in einer Tasche in seiner sonderbar schillernden Hose verschwinden ließ. Bevor Tala einmal blinzeln konnte, hatte der ungewöhnliche Fremde seinen Bogen schon wieder angehoben.

„Und jetzt deinen Kampfstock! Gib‘ ihn mir!“ Tala spürte den starken Willen ihres Gegners. Moa hatte sie darin ausgebildet, die Stärken und Absichten eines Gegenübers einzuschätzen, und auch wenn sich Widerspruch und Kampfgeist in ihr regten, fühlte sie, dass es in diesem Fall besser war, sich nicht zu widersetzen. Der Waldbewohner würde sie töten, wenn es sein musste. Also griff sie langsam hinter sich, zog ihren Kampfstock hervor und reichte ihn schweren Herzens ihrem Herausforderer. Als ihre Hand von dem glatten Holz abglitt, fühlte sie sich auf einmal nackt und ungeschützt.
Der junge Mann ließ seinen Bogen sinken und schaute sie misstrauisch an. „Was macht ein Mensch in den Hohen Wäldern?“ Die Art, wie er das Wort ‚Mensch‘ aussprach, ließ Tala nichts Gutes ahnen.
Zögernd antwortete sie: „Ich habe mich verirrt. Ich suche meine Freunde. Ich …“ Wie um alles in der Welt sollte sie diesem Fremden erklären, wer sie war und woher sie kam? Sie konnte ja noch nicht einmal sagen, wo sie genau hinwollte. Und warum, bei Himmel und Schatten, hatte sie dieses Holzstück mit dem Stein bei sich gehabt, wo sie doch die ganze Zeit schlafend hier gelegen hatte? Der junge Mann legte seinen Kopf zur Seite und seine Augen verengten sich.

„Ein Mensch“, wieder spuckte er das Wort förmlich aus, „der sich in die Hohen Wälder verirrt? Bist du auf den Kopf gefallen? Weißt du nicht, dass jedem die Todesstrafe droht, der unerlaubt die Wälder des Hohen Volkes betritt?“
Tala schluckte und spürte, wie Panik in ihr aufstieg. Was hatte sich Moa nur dabei gedacht, sie völlig ahnungslos in diese Welt zu schicken? Unsicher sah sie in die Augen des jungen Mannes. In seinem Blick spiegelten sich die Wildheit, die Geheimnisse und die Anmut dieses tiefen Waldes. Es fiel Tala schwer, ihre Gedanken zu ordnen.
„Ich …“, sie betrachtete hilflos ihre leeren Hände. Dann hob sie den Blick und sah dem Waldbewohner fest in die Augen. Er kannte sie nicht und Tala hatte keine Ahnung, ob er ihr glauben würde. Immerhin sprach er ihre Sprache, was sie verwirrte, aber höchst nützlich war. Auch spürte sie, dass er nicht vorhatte, sie zu töten − noch nicht.

„Ich bin Tala aus der Erdenwelt. Ich weiß nicht, ob du etwas von den Vielwelten weißt und ob du mir glauben wirst, aber ich bin durch verschiedene Welten gewandert, und jetzt bin ich hier. Ich weiß nichts über diesen Ort. Mein Lehrer hat mir ein Tor hierher geöffnet und ich bin durch die langen purpurnen Gräser bis in diesen Wald gelaufen. Ich muss das hier zu einer Frau namens Linnéa bringen.“ Tala fasste unter ihr Hemd und zog das Amulett hervor. Wenn er sie ausrauben wollte, würde er es ohnehin entdecken.
„Ich muss meine Freunde aus der Eiswelt wiederfinden, die hier vielleicht genauso umherirren wie ich. Das ist alles, was ich weiß.“ Sie atmete tief ein. „Ich erwarte nicht, dass du mir glaubst. Aber ich wollte dich und dein Volk nicht willentlich kränken, und ich habe deinen Stein an mich genommen, weil ich dachte, dass ich träume. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was passiert ist und warum ich ihn bei mir hatte, als ich aufgewacht bin.“
Ihre Stimme zitterte leicht bei den letzten Sätzen. Sie sah auf den Bogen des Waldbewohners, ihren Kampfstock in seiner Hand, und spürte, wie hilflos sie ihm ausgeliefert war.

Der junge Mann bedachte sie mit einem Blick, den sie nicht ergründen konnte, dann sah er auf das Amulett an ihrer Brust. Langsam legte er den Bogen beiseite und setzte sich ihr gegenüber auf den Pilzboden, wobei er sie nicht aus den Augen ließ.
„Du kommst aus den Vielwelten, sagst du?“ Er sprach mit einem leichten Akzent, und seine Stimme klang wie das un­deutliche Murmeln eines versteckten Waldbaches.
Tala nickte. Der Fremde mit der hellbraunen, perlmuttartig schimmernden Haut blickte zu Boden. Langsam schüttelte er den Kopf.
„Das ist zu sonderbar.“
Tala wusste nicht, was sie von dieser Bemerkung halten sollte. Glaubte er ihr? Er hob den Kopf und sah sie nachdenklich an. „Es fällt mir schwer, dir zu glauben. Es fällt mir schwer, und doch …“ Seine hellgrünen Augen mit den goldenen Sprenkeln schienen in sie hineinzutauchen. „Ich spüre keine Lüge in deinen Worten.“
Tala atmete aus. Es war richtig gewesen, ihm die Wahrheit zu sagen, und sie schöpfte Hoffnung.
„Und das Amulett -“, fuhr der Waldjäger fort und zeigte auf das kostbare Kleinod um ihren Hals, „ich habe es schon einmal gesehen. Nicht wirklich, sondern auf einer Zeichnung. Einer Zeichnung in einem sehr alten Buch in der Bibliothek der Sieben­hügelstadt.“ Wieder verstummte der junge Mann, als müsse er angestrengt nachdenken. Tala wagte noch immer nicht zu sprechen.

„Ich bin Arun, Sohn von Njendal.“ In seiner Stimme schwangen Stolz und eine Spur Trauer. „Ich gehöre oder gehörte zum Hohen Volk der Sermiramis, die diese Wälder bewohnen. Ich müsste dich ausliefern oder umbringen, da du unerlaubt eingedrungen bist. Aber ich werde es nicht tun.“ Tala wurde es etwas leichter ums Herz. „Jedenfalls solange nicht, bis ich deine ganze Geschichte gehört habe und mir über einige Dinge klar geworden bin.“
Tala betrachtete die fremdartigen Augen des jungen Sermiramis und versuchte wieder, seine genauen Absichten zu erspüren. Doch ihr Gegenüber schien gut darin zu sein, sein Innerstes nach außen abzuschirmen. Sie hatte keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen. Zunächst. Vielleicht konnte er ihr helfen, sich in dieser Welt zurechtzufinden, bis sie einen Weg gefunden hatte, ihm zu entkommen.

„Ich muss in die schimmernde Stadt Sermireidal im Herzen der Hohen Wälder. Es wird nicht leicht sein, dich dorthin mitzunehmen, aber wenn wir sagen, dass du meine Gefangene bist und ich dich ausliefern soll, dann haben wir vielleicht eine Chance.“ Und zu sich selbst fügte er hinzu: „Vielleicht sollte ich das Amulett Merlon zeigen.“
„Wer ist Merlon?“
Unwillkürlich umfasste Tala das Schmuckstück auf ihrer Brust. Sie würde nicht zulassen, dass es ihr jemand wegnahm!

Arun winkte ab. „Das wirst du früh genug erfahren. Wir müssen weiter. Ich habe einen dringenden Auftrag und habe mich schon viel zu lange hier aufgehalten.“ Der jugendliche Wald­krieger schulterte seinen Bogen und steckte ihren Kampfstock durch ein paar Bänder an seinem Rücken. „Deinen Stock behalte ich, bis ich dich besser kenne. Gegen die Raubtiere dieser Wälder wird er dir ohnehin kaum von Nutzen sein.“
Ein leises Lächeln huschte über Aruns Gesicht, als er sich umdrehte und sich mit einer fließenden Bewegung die Pilz­terrasse emporschwang. Er streckte ihr die Hand entgegen. Tala schulterte ihren Beutel und griff zu. Mit einem Ruck zog der Wald­bewohner sie nach oben, dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und eilte schnellen Schrittes davon, die Baumstraße entlang.
Tala lief ihm hinterher und ihre Augen hefteten sich an ihren Kampfstock, der am nackten Rücken ihres Bezwingers baumelte. Wenn er sich doch entscheiden sollte, sie auszuliefern, würde sie einen Weg finden, ihn zu überwältigen!

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ISBN Hardcover: 9783756840144
ISBN Taschenbuch: 9783756834372

Band II Teil 2 (New Edition): Tala und der verschollene Weise 2
(Achtung Spoiler: wenn du Band 1 und Band 2.1 noch nicht gelesen hast, solltest du hier nicht weiterlesen)

Apeiron glaubte, durch ein Nichts zu fallen. Es war ein seltsames Gefühl. Als ob für einen Moment alles aufgehört hätte zu existieren. Als würde er nicht mehr atmen, fühlen und denken. Für den Bruchteil einer Ewigkeit schien es ihm, als sei er nicht mehr vorhanden − doch im nächsten Augenblick versanken seine Pfoten in weichem Sand. Während der ersten Atemzüge, die ihn aus dem Nichts trugen, musste Apeiron sich erst wieder darauf besinnen, dass es überhaupt irgendetwas gab. Dass er ein Bewusstsein und einen Wolfskörper hatte und dass er sich in einer der Vielwelten befand. Oder vielleicht war er sogar schon in einer der Unterwelten?
Er erinnerte sich daran, dass Moa in seiner Zwischenwelt einige Worte in das anbrechende Gewitter hinein geflüstert hatte. Dann hatte das Nichts Apeiron verschlungen, um ihn nun an einem, wie es schien, recht unwirtlichen Ort wieder auszuspucken.

Winzige Sandkörner trieben ihm Tränen ins Gesicht und er hatte Mühe, etwas zu erkennen. Doch langsam klärte sich sein Blick und er sah, wo er gelandet war: Er stand auf einer großen Sanddüne, und um sich herum sah er weitere wogende Dünen in allen Größen und Formen, die sich bis zu einem dunstig flirrenden Horizont ausbreiteten. Die Luft war heiß und trocken, und ein glühender Wind wirbelte den Sand auf und peitschte ihn über die sich stetig verändernden Hügel. Apeiron schüttelte sein schwarzes Fell und hob seine lichtgelben Wolfsaugen zu dem dunstigen Himmel, der diese Ödnis wolkenlos überspannte. Eine Sonne war nicht zu sehen, und so schien es fast, als wäre das braungelbe Firmament bloß ein verschwommenes Spiegelbild der trostlosen Wüstenei um ihn herum.
„Und ich dachte, ich könnte dieser Art Wanderung entgehen“, knurrte Apeiron. Schon immer hatte er sich vor der Prüfung gescheut, der sich jeder junge Wolf der Waheela stellen musste: Wochenlang durch die Wüste Tharsis auf Nydamia zu wandern, um zu lernen, in einer kargen und lebensfeindlichen Umgebung zu überleben. Erst danach galt man als ein vollwertiges Mitglied des Rudels. Doch das hier war eine andere Art der Prüfung. Was ihm hier begegnen würde, konnte er nicht einmal erahnen.

Er lauschte. War da nicht ein Flüstern? Ein leises Wispern, das direkt aus den Hügeln um ihn herum auf ihn einzudringen schien? Ein Zittern durchlief sein Fell, und plötzlich kam es Apeiron so vor, als würde jedes einzelne Sandkorn in den Dünen ihn anstarren und ihn mit gleißenden Blicken von Innen ausweiden, wie ein Jäger seine Beute. Es fühlte sich an, als ob dieses Meer aus Sand genau wusste, weshalb er hier war, und als ob es nur darauf lauerte, zuzustoßen wie ein lebendiges Ungeheuer.
„Die Wüste des Sehenden Sandes“, murmelte er, ohne zu wissen, was er da sagte. Apeiron lief los, auch wenn seine Pfoten nur widerwillig den zischelnden Untergrund berührten. Er erklomm den nächsten Hügel, und dann noch einen und noch einen. Hier sollte Lycaon sein? Apeiron verdrängte den Gedanken, dass Moa ihn womöglich in die falsche Welt geschickt hatte, und lief weiter. Doch irgendetwas stimmte nicht. Waren denn keine Seelen in der Unterwelt, die hier ihr tristes Dasein fristeten? Oder verbargen sich die Verstorbenen in den Sandkörnern und beobachteten jeden seiner Schritte? Aber warum nur war sein Vater, der König der Waheela, an diesen schrecklichen Ort gelangt? Sollte er nicht zu seinen Ahnen ins Sternenlicht fliegen? Der Gedanke, dass Lycaon dazu verdammt sein könnte, bis in alle Ewigkeit durch eine feindliche Ödnis zu streifen, legte sich schwer auf Apeirons Herz und ließ die triste Wirklichkeit um ihn herum noch trostloser erscheinen.

Plötzlich horchte er auf. Ein wenig melodiöses Pfeifen durchdrang das sandfahle Raunen! Apeiron reckte seine Schnauze in die Luft und witterte einen für eine Totenwelt allzu lebendigen, widerwärtigen Geruch: Ranziges Leder und verschwitzte Menschenhaut! Vorsichtig schlich er in Richtung des Gestanks. Das Pfeifen wurde lauter und Apeiron legte die Ohren an. Das waren bei weitem die schlimmsten Misstöne, die er jemals gehört hatte! Noch immer geduckt umrundete er eine Sandwehe – und blickte in ein schmales Tal, und in dessen Mitte auf einen Brunnen, neben dem ein Mann stand. Dessen Lederkleidung war alt und abgenutzt, genau wie der Eimer und das Zugseil, die er in gleichmäßigen Bewegungen in den Brunnen hinabgleiten ließ. Nach einiger Zeit zog der Mann den Eimer wieder herauf, dann schaute er lange in den Behälter hinein, nur um ihn im nächsten Moment wieder in dem Schacht versinken zu lassen. Das Ganze schien ein Spiel zu sein, das sich scheinbar endlos wiederholte. Doch im selben Moment, als der junge Wolf schon überlegte, ob es vielleicht nicht besser wäre, eine Begegnung mit dem seltsamen Fremden zu vermeiden, brach die schiefe Melodie abrupt ab.
Der Mann hielt in seiner Arbeit inne und drehte sich langsam um. Die Haut in seinem Gesicht war rotbraun verbrannt und seine Augen schauten Apeiron aus tiefen Höhlen an.
„Was tut ein schlagendes Herz an diesem Ort?“, fragte er mit einer Stimme, die sich genauso rau und falsch anhörte wie sein Pfeifen. „Du solltest nicht hier sein. Dies ist kein Ort für jene aus Fleisch und Blut.“ Der Mensch sah den Wolfsprinzen starr an. Doch plötzlich schoss sein Zeigefinger vor: „Verdammt sollst du sein!“, kreischte er unvermittelt − und Apeiron wich zurück. Der ausgestreckte Finger war seltsam kurz, und erst jetzt sah der Wolf, dass dem Mann an allen Fingern die letzten Glieder fehlten. „Verdammt sei dein schlagendes Herz! Wie kommt es, dass es hier unten wandelt?! Du bist hier nicht erwünscht! Geh‘ zurück!“ Die letzten Worte kamen leise, aber befehlend. Apeiron reckte sich. Abscheu und Furcht warnten ihn, sich auf ein Ge­spräch mit dem Fremden einzulassen, doch er hatte keine andere Wahl.
„Ich kann nicht zurück. Ich bin aus freiem Willen hier. Ich suche meinen Vater und ich werde nicht eher zurückgehen, als bis ich ihn gefunden habe.“

„Soso. Vater, Vater. Ach, so einer! Ja, so einer. Denkt, er kann seine Lieben zurückholen. Ha! Kein Zurück gibt es! Wer durch das Wasser des Brunnens gegangen ist, kehrt nie wieder. Hier gibt es keine Wege, nur Richtungen, und sie führen alle fort, aber niemals zurück.“
Der Mann hatte wieder begonnen, den Eimer in den Brunnen hinabgleiten zu lassen. Apeiron näherte sich langsam, und nun sah er, dass auch die Füße des seltsamen Menschen verkrüppelt waren.
„Durch das Wasser des Brunnens? Wie meinst du das?“
Er fing sich einen verächtlichen Blick ein.

„Die Seelen. Sie tauchen durch das Wasser des Spiegels. Sie suchen etwas in ihm. Sie lieben den Spiegel und verzehren sich nach ihm. Doch sie können nicht zurück! Sie sind gefangen. Und je mehr sie in den Spiegel sehen, desto mehr wollen sie zurück. Doch da unten gibt es keine Wege, nur Richtungen. Und diese Richtungen führen fort von dem Spiegel! Doch das erkennen die wenigsten. Sie sehen sie nicht. Sie sehen nur den Spiegel. Und durch die Verzweiflung, etwas nicht erreichen zu können, was direkt vor ihnen liegt, werden sie verrückt und vergessen, wer sie sind.“ Der Mann seufzte, doch es klang eher wie ein hustendes Lachen. Auf seinem fast kahlen Schädel glänzte Schweiß und ein stechender Geruch ging von ihm aus. Apeiron fühlte, wie Übelkeit in ihm aufstieg, doch er unterdrückte sie; und obwohl er nicht schlau wurde aus den Worten des Fremden, fragte er weiter: „Du riechst wie ein lebendiger Mensch. Wie kommt es, dass du hier in der Unterwelt weilst?“ Kehliges Gelächter erscholl und ein zahnloser Kiefer stellte ein abscheuliches Grinsen zur Schau: „Lebendig! Ja, lebendig wie du! Wenn auch älter, viel älter. Aber glaubst du wirklich, dass du bereits in der Unterwelt bist?“ Wieder das grausige Husten. „Glaubst du, schlagende Herzen können so einfach in die Unterwelten spazieren und gemütlich nach ihren Lieben suchen? Pah! Das glaubst du wirklich! Ja, das glaubst du! Aber Achtung!“ Der Mann machte eine gebieterische Geste. „Niemand kommt in die Unterwelt, bevor er bei mir bezahlt hat! Ich bin der Spiegelwächter. Ich befördere die Seelen in die Unterwelten. Aber Achtung! Nicht jeder, der bei mir bezahlt, schafft den Sprung hinüber. Manche verlieren sich bereits im Wasser des Spiegels.“ Der Wächter kam dicht an ihn heran und sah Apeiron tief in die Augen. Sein Blick war wie ein Schattenbild des Lebens, das jemand verlassen musste, der an ihm vorbei wollte. In ihm lagen Liebe, Freude und Glück, doch waren diese Dinge nicht wirklich. Sie waren nur der Hauch einer Erinnerung, kurz bevor sie verblasst. Der irre Glanz in den Augen des Mannes spiegelte in erschreckender Weise den Moment wider, in dem ein fühlendes Wesen erkennt, dass das, was ihm am wichtigsten war, für immer verloren ist.

Ein Schauder erfasste Apeiron. Er fröstelte, und eine Stimme in seinem Innern drängte ihn zur Umkehr. Doch er verharrte und hielt dem stechenden Blick des Wächters stand. „Was muss ich tun, um in die Unterwelten zu gelangen?“
Ein listiges Lächeln zeichnete sich auf den Lippen des Fremden ab. Er streckte eine seiner verkrüppelten Hände aus: „Gib mir deine wertvollste Erinnerung.“ Apeirons Ohren zuckten. „Nein!“
Der Spiegelwächter lachte laut und schallend. „Ha! Wusste ich´s doch! Na, dann geh‘ schön dorthin zurück, wo du herge­kommen bist, wenn du das überhaupt noch kannst. Die meisten irren lange in der Wüste des Sehenden Sandes umher, bis die Verzweiflung sie wieder zu mir treibt und sie mir bereitwillig geben, was ich verlange!“ Mit diesen Worten wandte sich der Mann ab und beugte sich über den Eimer, den er gerade wieder emporgezogen hatte.
Apeiron ging ein paar Schritte rückwärts. Seine Beine fanden plötzlich keinen Halt mehr in dem Sand, dessen Flüstern nun zu einem tosenden Brüllen anschwoll. Moas Worte klangen in seinem Kopf: „Du wirst vielleicht dem Tod in die Augen sehen. Vielleicht wird er dich einfangen und nicht zurücklassen. Vielleicht wirst du aber auch nur teilweise sterben, was grausamer ist als alles andere. Die Unterwelten sind erbarmungslos, Apeiron. Nur das mutigste Herz kann von dort in die Welten der Lebenden zurückkehren.“
Ein Zittern durchlief den sehnigen Körper des Wolfsprinzen. Einen Moment glaubte er, überwältigt zu werden von einer aufsteigenden Trauer. Seine Kehle war so trocken, dass er kaum schlucken konnte.
„Keine Angst. Es tut nur weh in dem Moment, in dem du dich entscheidest, die Erinnerung abzuschneiden“, raunte der Wächter, ohne ihn anzusehen. „Wenn du durch den Spiegel gegangen bist, bleibt nichts als Leere. Kein Gefühl, keine Trauer, keine Tränen. Nur ein Teil deines Herzens, den ich hier in den Wassern des Spiegels verwahre. Abgetrennt von der Ganzheit all deiner Erinnerungen.“ Er zuckte die Schultern. „Was bleibt ist Leere, dort wo sie einst waren. Nur Leere, weiter nichts.“ Dann trat der seltsame Mann einen Schritt zurück, sodass Apeiron an den Rand des Brunnens treten konnte. Als der Jungwolf in das von Schlieren durchzogene Wasser am Grund blickte war ihm, als ob eine Vielzahl an Stimmen von den gemauerten Wänden widerhallte. Doch er konnte nicht verstehen, was sie sagten. Dafür echoten erneut laut und deutlich die Worte seines Lehrers aus seiner Erinnerung empor: „Du wirst Tala am besten beschützen, indem du deinen Vater suchst. Er weilt in einer der Unterwelten und es ist deine Aufgabe, ihm zu helfen, von dort zu entfliehen und alles von ihm zu erfahren, was uns nützlich sein kann.“ Apeiron atmete tief ein. Er war bis hierher gekommen. Nun konnte er nicht umkehren. Außerdem wollte er weder seinen Vater noch Tala im Stich lassen. Sie brauchten ihn!

Er musste und würde also in diesen Brunnen springen! Und genau in diesem Moment und noch ehe er seinen Entschluss in die Tat umsetzen konnte, gab der Boden unter ihm nach und er wurde nach unten gezogen. Die Wüste, der Wächter des Spiegels und die Mauern des Brunnens verschwanden, und er spürte, wie er fiel. Und während er fiel, schien sich etwas aus seinem Herzen herauszuziehen. Etwas, das sich nach Liebe anfühlte.
Ein stechender Schmerz durchzog seine Brust. So allumfassend, dass er glaubte, sie würde in tausend Stücke zerspringen. Doch schon umschloss eine gallertartige Masse seinen Körper, als wäre er in dickes Schlickwasser gefallen. Und im nächsten Augenblick konnte Apeiron sich nicht mehr erinnern, was er dem Spiegelwächter überlassen hatte. Nur das Gefühl blieb, etwas unsagbar Wichtiges verloren zu haben. Ein seltsam blinder Fleck im Herzen. Eine Leere, durch nichts auf der Welt zu füllen.

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ISBN Hardcover: 9783756840311



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